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Re: "Moral"

Verfasst: Mi 12. Sep 2012, 11:33
von Simpl
Karl May als Erzähler in "Am Jenseits" läßt den Münedschi - ungestraft - ihm ins Gesicht spucken und Folgendes sagen:

"Das, das wollte ich dir sagen, ja, sagen, denn das Anspeien ist ja die deutlichste der Sprachen! Du bist der elendeste, der armseligste Mensch, der mir jemals vorgekommen ist! Mit Worten der Liebe hast du dich in mein Herz gestohlen, während in dem deinigen nur der Haß regiert! Du gabst dir den Anschein der Seelenreinheit, der Gedankenhöhe und wälzest dich doch in dem tiefsten, niedrigsten Schmutze des Verbrechens! Du hast das Kleid der Güte, der Barmherzigkeit um dich geschlagen und hetzest doch die Menschen wie Hunde, die sich zerreißen sollen, auf einander. Du heuchelst Wahrheit, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit und Treue und bist doch voller Falschheit, Lug und Trug! Ja, deine Gelehrsamkeit ist groß, wohl größer als das Wissen, welches ich mir mühsam erworben habe, aber du hast sie in den Pfuhl der sittlichen Verdorbenheit geworfen, aus dem heraus sie nur verderbend anstatt Segen bringend wirken kann! Du giebst vor, himmelan zu streben und stehst doch nicht nur auf dem Weg zur Hölle, sondern bist schon jetzt und selbst ein Abgrund schlimmster Teufelei! Du thust, als liege dir der Menschen Seligkeit am Herzen und bist doch ein Verführer zum Verbrechen und trägst die Schuld an all der Schlechtigkeit, die hier geschehen ist! Ihr sprecht von einem Kanz el A'da, der eine unverschämte Lüge ist, du aber hast einen Raub an mir begangen, hast meine Seele betrogen und bestohlen und mir einen innern Verlust zugefügt, für den es keinen Ersatz giebt! Das mußte ich dir sagen; nur darum ließ ich mich jetzt zu dir führen, um dich des Seelenraubes, ja, des Seelenmordes anzuklagen und dir in das Gesicht zu speien, damit du erfährst, wie der von dir denkt, dem du das Herz nur öffnetest, um es noch ärmer und elender zu machen, als es vorher war! Das erblindete Auge meines Körpers ist trocken, aber mein inneres Auge weint. Ich gebe dich der Strafe Allahs heim und fordere von ihm, für dich nicht Gnade, nicht Barmherzigkeit zu haben, sondern nur den Untergang, das ewige Verderben!"

("Die Selbstkritik hat viel für sich"; Wilhelm Busch)

Ich muß jedesmal an Marie Hannes denken an der Stelle, bzw. die grauenvolle Art, wie May mit ihr umging, als es ihm "zu heiß" wurde.

Um Mißverständnissen vorzubeugen: ich mag ihn. Kritisch hingucken und mögen schließen sich nicht aus.

Re: "Moral"

Verfasst: Mi 12. Sep 2012, 11:20
von Helmut
Und zu der von Dir beschriebenen "dunklen Seite" könnte man natürlich (mehr oder weniger plump) sagen; wäre all das nicht geschehen, wäre May möglicherweise ein (wahrscheinlich sehr guter) Lehrer geworden und geblieben. Und er hätte sich nicht in so vielen herrlich zu lesenden Büchern all das von der Seele schreiben müssen. Also seien wir froh drum.
:huepf:
(Aber ehrlich, auch das ist ein Punkt, den man mal so richtig (aus-)diskutieren sollte.)
(Ich sehe schon, an Themen haben wir mittlerweile genug für die nächsten 2 Jahre unserer Treffen :irolleye: )

Helmut

Re: "Moral"

Verfasst: Mi 12. Sep 2012, 11:12
von Helmut
Weißt Du, liebes Hexla, ich habe das gar nicht so speziell gemeint, sondern viel allgemeiner
(das was Du oben wirklich an bemerkens- und bedenkenswerten schriebst, trifft daher meine Kritik nicht so voll und ganz):

Kein Mensch regt sich darüber auf, wie der junge (und alte?) Goethe seine Frauen gewechselt hat, kein Mensch regt sich darüber auf, dass ein Tschaikowsky seine Ehefrau bereits nach einem Tag (!) verließ, als der feststellte, dass Heterosexualität doch nichts für ihn ist, kein Mensch bedauert Katja Mann, wie sie mit den Eskapaden ihres Ehegatten fertig werden musste und wurde, usw. und so fort; nur bei Karl May da gibt es ganze Bücher und Litaneien darüber wie schofel er sich zu Emma benommen hat. Diese Art von Doppelmoral ist es, die mich dabei stört (ohne darauf eingehen zu wollen, wie gering das May'sche "Vergehen" dem anderer "Künstler" gegenüber sein mag).

Helmut

Re: "Moral"

Verfasst: Di 11. Sep 2012, 22:32
von Simpl
Helmut hat geschrieben: Dass man da "heute die Schultern zuckt" scheint auch ausgerechnet bei Karl May nicht die Regel zu sein; denn es soll da ja immer noch Leute geben, die den entsprechenden und angeblichen "Vorwurf" von Arno Schmidt und P. Ellbogen immer noch als "ehrenrührig" ansehen.
Ein Spieß, der andere bemeiert, kann halt nur Spießmeier heißen, könnte man einigermaßen dezent hobblefrankieren ...

:grinw:

Re: "Moral"

Verfasst: Di 11. Sep 2012, 22:27
von Simpl
Hexla hat geschrieben: Ich lasse aber auch nicht außer Acht, dass es bei jedem seiner „Delikte“ auch Opfer gab. [...]

Auch bei Karl May gab es Opfer. Vielleicht sorgten seine Einbrüche, seine Diebstähle für Albträume, für schlaflose Nächte, für Schweißausbrüche – ich/wir wissen es nicht. Keiner redet davon.
Doch, ("Doch einer ist, der prüft ihn"; Sophokles/Hölderlin, Ödipus)
›Gebt Liebe nur, gebt Liebe nur allein‹ durchzieht als Motto die ganze Erzählung. Wieder und wieder läßt May sein von diesen Worten getragenes Gedicht im Text erscheinen, wird nicht müde, es den Menschen auf Erden ans Herz zu legen. Er selbst gab keine Liebe. Er gab Täuschung, Betrug, Verrat. Im Manuskript war er der Biedermann, der Vermittler einer alles Irdische wohlgefällig einenden Philosophie; wenn er in den Spiegel sah, starrte ihm der ›Kupferstecher Hermes‹ entgegen, der im Angesicht der Leipziger Thomaskirche, dem Wahrzeichen der Gottesmacht, schimpfliche Büberei beging an arglosen Mitmenschen.
hat Walther Ilmer ganz großartig gesagt bzw. geschrieben. Dafür hat man ihn dann, wie ich hörte, angegangen. Offenbar weil man die Welt in Schwarz und Weiß und Gut und Böse einzuteilen gewohnt ist und nicht differenzieren mag oder kann.
Diese Seite Mays ist nicht hell oder freundlich.
So ist es. Da gibt es nichts schönzureden. (Entsprechende gutgemeinte Versuche verstehe ich selbst beim meinerseits sonst hochgeschätzen Hermann Wohlgschaft manchmal nicht recht ...)

Re: "Moral"

Verfasst: Di 11. Sep 2012, 21:50
von Hexla
Helmut hat geschrieben:Karl May wird häufig und wie ich finde zu Unrecht mit moralischen (oder moralinischen) Maßstäben gemessen, wie z.B. sein Verhältnis zu seinen Frauen. Ich weiß zwar, oder denke zu wissen, was damit gemeint ist und wie das gemeint ist. Ich will es aber doch mal wörtlich nehmen und damit auf die Spitze setzen und übertreiben. Ich würde mir nicht zugestehen zu entscheiden, was die "dunkle" oder "helle" Seite eines Künstlers (und das war auch May) war, daher würde ich da eher wertfrei von der "anderen" Seite sprechen. Warum, nur warum sind wir dann bei "unserem" Karl May nicht auch so großzügig und meinen ihn mit moralischen Kriterien überziehen zu müssen?
Eine mögliche Antwort ist, dass wir ihn leider als Künstler immer noch nicht ernst genug nehmen.
Helmut
Du hast recht Helmut, man oder besser wir könnten es auch die "andere Seite" nennen. Ich möchte aber gerne erklären, was mich zu der Aussage „dunkle“ Seite brachte, denn wenn man "nur" von der "anderen Seite" spricht, muss diese dann nicht unbedingt negativ behaftet sein.

Die "dunkle(n) Seite(n)" war bzw. waren nicht die sexuellen Vorlieben oder Nichtlieben Karl Mays. Ehrlich gesagt, interessiert mich das noch nicht mal besonders, zumindest nicht an der Stelle, denn selbstverständlich gehört es zu Karl May dazu, so wie auch zu Emma oder Klara, wobei ich jedoch erwähnen muss, dass ich gerade an Loests Roman als sehr angenehm empfand, dass genau das Thema Sexualität nur sehr verhalten, sehr am Rande spielend, erwähnt wurde.
Kein Wort von Emmas und Klaras „angeblicher“ Bisexualität. Kein Wort zu Karl Mays „vermuteter“ Homosexualität. Bei Loest spielen Emmas Sehnsüchte nach Männern (Moral!) (romantisierend: die Sehnsucht nach dem „Traummann“, realistisch: Sehnsucht nach einem Versorger) auch nur am Anfang des Kennenlernens eine Rolle.
Bei Klara und Karl wird es eher als kokette Verführung von Klaras Seite dargestellt. Beispiel: "Sie öffnete ihren Zopf..." oder: "Er stellte sich ihre weißen Arme vor...". Aber immer erwähnt es Loest auf eine sehr unauffällige, angenehme Art. So als wolle er seinen Menschen nicht zu nahe treten, sie nicht verletzen.
Es müsste nicht moralisiert werden, unsere Zeit ist moderner (wenn auch nicht unbedingt toleranter).Deshalb ging es mir auch nicht um Moral oder das ich Karl May moralisch beurteile oder verurteile mit meinem Begriff „Mays dunkle Seite“

Es waren vielmehr die – hm, wie nenne ich es? - die Sturm- , Drang- und Findungsjahre oder deutlich gesagt, die Straftaten vom jungen Karl May.

Dabei lasse ich nicht außer Acht, dass Karl May aus extrem ärmlichen Verhältnissen kam, ich lasse nicht außer Acht, wie übel Karl May mitgespielt wurde wegen einigen mitgenommen Kerzenstummeln, ich lasse auch nicht außer Acht, wie rüde und schroff mit ihm umgegangen wurde usw.

Ich lasse aber auch nicht außer Acht, dass es bei jedem seiner „Delikte“ auch Opfer gab. Heute lesen wir häufig, wie gut sich psychologisch um „Täter“ gekümmert wird und ein Aufschrei geht durch die Nation, wo denn die Opferhilfe bleibt.

Auch bei Karl May gab es Opfer. Vielleicht sorgten seine Einbrüche, seine Diebstähle für Albträume, für schlaflose Nächte, für Schweißausbrüche – ich/wir wissen es nicht. Keiner redet davon. Das ist nicht harmlos "eine andere Seite", das ist nunmal – für mich – die dunkle Seite Karl Mays. Wenn sich einer als Polizist ausgibt und eine Straftat begeht, was entsteht dann beim Opfer? Es wird vielleicht den Rest seines Lebens kein Vertrauen mehr fassen können, Angst entwickelt sich….
Wir dürfen auch nicht außen vor lassen, das es psychologische Betreuung und Aufarbeitung zu Karl Mays Zeit in diesem Umfange wohl sicher nicht gab - in dem Fall mutete man den Opfern zu, selbst irgendwie damit fertig zu werden.

Diese Seite Mays ist nicht hell oder freundlich. May beschreibt es selber sinngemäß so, dass er sich rächen wollte an der Gesellschaft, was sie ihm antat, das er voller Zorn und Wut gewesen ist, das merkt man in seiner eigenen Biographie. Rache ist nie ein guter Ratgeber, das musste auch Karl May erfahren.
Sicher gäbe es noch das ein oder andere Beispiel, ich habe mich an dieser Stelle für oben genannte Beispiele entschieden weil es hier am deutlichsten wird, was ich meinte. Weitere Beispiele können gerne Diskussionsgrundlage sein/werden.

Karl May hat mir viele unglaublich spannende Lesestunden beschert und tut es noch.
Deshalb kann ich Karl May gerne als schriftstellernden Künstler, sogar als Dichter ansehen.
Hm, ich würde es gerne so ausdrücken:
Wenn wir uns Karl May-Freunde nennen, dann akzeptieren wir seine Vergangenheit, freuen uns an seinen Erfolgen und lesen seine Abenteuer/Erzählungen noch in der Zukunft. Gibt es für einen Schriftsteller etwas wertvolleres über seinen Tod hinaus?

ein gedankenvolles :hexla:


Re: "Moral"

Verfasst: Di 11. Sep 2012, 18:09
von Helmut
Obwohl und gerade natürlich auch "Karl May und die Moral" ein wunderschönes Thema (mind.) für einen Vortrag ist. Mal sehen, ich habe ja jetzt Zeit (sagt die Marianne, mit der ich schon seit 37 Jahren zusammen lebe und auch fast so lange verheiratet bin).

Helmut

Re: "Moral"

Verfasst: Di 11. Sep 2012, 17:54
von Helmut
Simpl hat geschrieben:Unter seiner heftigen verschwiegenen Neigung zu männlichen Wesen hat er gelitten. Das war ja zu seiner Zeit strafbar ... Heute zuckt man die Achseln.
Strafbar war es auch nur bei Männern, wie auch (heute immer noch) Exhibitionismus nur bei Männern strafbar ist.
(Da soll es allerdings Männer geben, wie ich vom Hörensagen weiß, die da bei Frauen sogar noch dafür bezahlen (für deren Exhibitionismus)).

Dass man da "heute die Schultern zuckt" scheint auch ausgerechnet bei Karl May nicht die Regel zu sein; denn es soll da ja immer noch Leute geben, die den entsprechenden und angeblichen "Vorwurf" von Arno Schmidt und P. Ellbogen immer noch als "ehrenrührig" ansehen.
(Dabei ist ja der eigentliche Vorwurf von Schmidt an May in seinem "Sitara" viel gravierender und von völlig anderer Art. (Aber geneueres dazu in meinem vielleicht doch noch irgendwann stattfindenen "Vortrag" "Arno Schmidt und Karl May" bei einem unserer nächsten Treffen.)

Helmut

Re: "Moral"

Verfasst: Di 11. Sep 2012, 12:26
von Simpl
Unter seiner heftigen verschwiegenen Neigung zu männlichen Wesen hat er gelitten. Das war ja zu seiner Zeit strafbar ... Heute zuckt man die Achseln.

Ich habe vom de Mendelssohn erst den ersten Band durch. Wenn ich demnächst im zweiten oder dritten Hinweise finde, melde ich mich.

:wcool:

(Irgendwo habe ich mal einen Tagebucheintrag von ihm wie "heute sehr sinnlich" oder so gelesen. Aber wer ist das nicht mal ... wenn der Frühling kömmt und die Sonne scheint ... :grinw: )

Re: "Moral"

Verfasst: Di 11. Sep 2012, 12:21
von Helmut
... ich habe natürlich geringfügig übertrieben, aber gibt es nicht irgendwo literarische Hinweise (in seinem Werk), dass Th. Mann darunter (auch) gelitten hat?

Helmut