Weltanschauliches in "Mein Leben und Streben"

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Simpl

Weltanschauliches in "Mein Leben und Streben"

Beitrag von Simpl » Fr 13. Mai 2011, 17:55

Die in einem anderen Thread angesprochene Thematik Spiel – Spieler, Rolle – Darsteller, ließ mich an eine hochinteressante Stelle in Karl Mays autobiographischer Schrift „Mein Leben und Streben“ denken, nämlich
Da kam ein Tag, an dem sich mir eine Welt offenbarte, die mich seitdem nicht wieder losgelassen hat. Es gab Theater. Zwar nur ein ganz gewöhnliches, armseliges Puppentheater, aber doch Theater. [...] Puppen, Puppen, Puppen! Aber sie lebten für mich. Sie sprachen; sie liebten und haßten; sie duldeten; sie faßten große, kühne Entschlüsse; sie opferten sich auf für König und für Vaterland. Das war es ja, was der Herr Kantor damals gesagt und bewundert hatte! Mein Herz jubelte. Als wir nach Hause gekommen waren, mußte Großmutter mir beschreiben, wie die Puppen bewegt werden.

"An einem Holzkreuze", erklärte sie mir. "Von diesem Holzkreuze, gehen die Fäden hernieder, die an die Glieder der Puppen befestigt sind. Sie bewegen sich, sobald man oben das Kreuz bewegt."
"Aber sie sprechen doch!" sagte ich.
"Nein, sondern die Person, die das Kreuz in den Händen hält, spricht. Es ist genauso, wie im wirklichen Leben."
"Wie meinst du das?"
"Das verstehst du jetzt noch nicht; du wirst es aber verstehen lernen."

[...] Und die Fäden, diese Fäden; die alle nach oben gehen, mitten in den Himmel hinein! Und alles, alles, was sich da unten bewegt, das hängt am Kreuz, am Schmerz, an der Qual, am Erdenleid. Was nicht an diesem Kreuze hängt, ist überflüssig, ist bewegungslos, ist für den Himmel tot! Freilich kamen mir diese letzteren Gedanken damals noch nicht, noch lange nicht; aber Großmutter sprach sich in dieser Weise, wenn auch nicht so deutlich, aus, und was ich nicht direkt vor Augen sah, das begann ich doch zu ahnen. [...] ich bin aufrichtig genug, zu sagen, daß ich trotz aller Erbauung, die ich da fand, niemals einen so unbeschreiblich tiefen Eindruck aus der Kirche mit nach Hause genommen habe wie damals aus dem Puppentheater.

[...] "Herr Kantor, ich will auch so ein großer Dichter werden, der nicht für Puppen, sondern nur für lebende Menschen schreibt! Wie habe ich das anzufangen?" Da sah er mich sehr lange und unter einem fast mitleidigen Lächeln an und antwortete: "Fange es an, wie du willst, mein Junge, so werden es doch meist nur Puppen sein, denen du deine Arbeit und dein Dasein opferst." Diesen Bescheid habe ich freilich erst später verstehen lernen; aber diese beiden Abende haben ohne Zweifel sehr bestimmend auf meine kleine Seele gewirkt. Gott, Mensch und Teufel sind meine Lieblingsthemata gewesen und geblieben, und der Gedanke, daß die meisten Menschen nur Puppen seien, die sich nicht von selbst bewegen, sondern bewegt werden, steht bei allem, was ich tue, im nahen Hintergrunde. Ob Gott, ob der Teufel oder ob ein Mensch, ein Fürst des Geistes oder ein Fürst der Waffen, das Kreuz, von dem die Fäden herunterhängen, in den Händen hält, um das Volk der Menschen zu beeinflussen, das ist niemals sofort, sondern immer nur erst später an den Folgen zu ersehen.
Vom Kleist gibt’s auch einen sehr interessanten Text der sich mit diesem Themenbereich befaßt, falls sich jemand für sowas interessiert,

http://www.kleist.org/texte/UeberdasMar ... eaterL.pdf

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